3c YOU GAVE ME MY FREEDOM
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Juli 1938. ANNA MAHLER, die Tochter Almas und Gustav Mahlers
packt ihre Koffer zur Abreise nach London. Der Chauffeur PAUL
kommt.
PAUL Ah,
Fräulein Anna! Ihre Mutter hat Sie gesucht. Ich soll
Ihnen das hier geben.
ANNA Wo
ist Sie denn? Ich muß mich noch verabschieden.
PAUL Ihre
Mutter ist spazieren gegangen. Sie sollen warten, bis sie
wieder zurück ist.
ANNA Ich
möchte jetzt fahren. - Helfen Sie mir mit den Koffern,
ja?
PAUL Aber
Sie möchten doch bitte noch warten, bis Ihre Mutter zurück
ist. Sie möchte sich von Ihnen verabschieden.
ANNA Ich
möchte aber jetzt fahren.
PAUL Oh...
ANNA Ach,
kommen Sie, Sie wissen genau, was für eine Erleichterung
es für mich sein wird, einmal nicht unter ihrer Fuchtel
zu stehen.
PAUL Aber
so dürfen Sie nicht reden, Ihre Mutter liebt Sie doch!
ANNA Ja,
jetzt auf einmal. Weil ich bei der Pariser Weltausstellung
den ersten Preis für meine Skulpturen bekommen habe,
die sie vorher nicht ausstehen konnte.
PAUL Das
dürfen Sie nicht sagen. Das ist nicht fair.
ANNA Die
Wahrheit ist nie fair, merken Sie sich das. Vor allem, wenn
man ein Leben lang versucht, sie zu umgehen. Machen Sie doch
nicht so ein Gesicht, Paul! Sie wissen, daß ich Sie
nicht gemeint habe. Ich spreche nur von meiner Mutter.
PAUL Ich
muss Ihnen das hier geben.
ANNA (packt
Mahlers Totenmaske aus): Wissen Sie, wer das ist?
PAUL Aber
natürlich, Fräulein Anna: Gustav Mahler.
ANNA Kennen
Sie Musik meines Vaters?
PAUL Aber,
gnädiges Fräulein, selbstverständlich. Ihre
Mutter spielt sie doch sehr oft.
ANNA Das
sagt nichts. Sie versteht nichts davon. Und wissen Sie warum?
Weil diese Musik voller Schmerz ist. Voller Schmerz und voller
Qual. Unvorstellbarer Qual. Und davon versteht meine Mutter
nichts. Weil sie feige ist.
PAUL Ich
glaube, ich hole jetzt besser den Wagen...
ANNA Mein
Vater war anders - er war mutig genug, Gefühle zuzugeben.
Er hat auch schlimm dafür büßen müssen,
das können Sie mir glauben, aber er hat es trotzdem riskiert.
Er hat es riskiert! Verstehen Sie? Das hat meine Mutter nie
verstanden. Sie hat seine ganze Musik nie verstanden, sie
hat sie nicht einmal gemocht. Er war einfach eine Nummer zu
groß für sie.
PAUL Warum
erzählen Sie mir das alles?
ANNA Wissen
Sie, was mir wirklich fehlen wird?
PAUL Was
denn?
ANNA Unser
Musizieren. Ja, Paul. Das war gar nicht mal so übel!
PAUL Das
war doch nur irgendeine Jazz-Musik...
ANNA Was
ist so schlecht an Jazz?
PAUL Ihre
Frau Mutter sagt es ist minderwertige Musik, reine Unterhaltung...
ANNA Ein
Jammer, daß sie letztes Jahr nicht mit waren in Paris.
Freunde haben mich damals in ein Lokal mitgenommen, wo nur
Jazz gespielt wurde. Irgendwo in einem Keller am Montmartre.
Hundertfünfzig Leute auf einem Fleck, dicht gedrängt.
Die meisten ganz jung. Schwarz und weiß gemischt. Die
haben getanzt wie verrückt. Ich kann ihnen das gar nicht
beschreiben... Es war eine Energie, eine Hoffnung, eine Lebensfreude
- und alle waren glücklich. Das hätten Sie erleben
sollen, mein Lieber! Das hätten auch Mammi sehen sollen!
PAUL Wieso
denn das?
ANNA Die
Welt verändert sich sehr schnell. In Kürze werden
wir sie nicht mehr wieder erkennen. Besonders Mammis Welt,
Paul. Die Welt hier. Die Welt von gestern. Wir sehen einer
tiefschwarzen Zeit entgegen, und wenn kein Wunder geschieht,
wird nicht nur der Hagel der Geschosse, sondern auch der Aschenregen
der Lüge die Menschheit begraben. Aber am Ende des Tunnels
ist Licht, ist Freiheit. Und es wird genau diese Poesie sein,
genau diese Musik, die Musik, die aus der Unterdrückung
kommt, die dann die neue Freiheit repräsentieren wird.
Ich kann es Ihnen nicht erklären. Es ist schwer, über
etwas zu sprechen, für das es keine Worte gibt. Aber
eins können Sie mir glauben: In zwanzig oder dreißig
Jahren wird man diese Musik und diese Literatur feiern. Die
Jugend wird sie feiern. Und wissen Sie was? Dann wird man
endlich auch die Musik meines Vaters verstehen.
ANNA Bringen
Sie jetzt meine Sachen zum Wagen.
FRANZ WERFEL kommt und wirft Steine gegen das Fenster.
WERFEL Ah, Anna! Wo ist Alma? Ich habe gerade
ein Gedicht gemacht. Ich muß es ihr zeigen!
ANNA Die Mammi ist spazieren gegangen.
WERFEL Ich
muß es ihr unbedingt vorlesen. Hoffentlich gefällt's
ihr.
ANNA Ich fahre heut' Abend.
WERFEL Es ist sehr inspirierend. Ich hoffe,
daß Alma es vertont.
ANNA Komm doch herein! - Zeig mir das neue
Gedicht.
WERFEL Aber ich muß es doch zuerst
Alma zeigen - !
ANNA Komm schon! Gib her. In ein paar Stunden
hast du mich nicht mehr. Dann bin ich weg. Vielleicht für
sehr lange. Wer weiß, ob wir uns überhaupt noch
einmal wiedersehen.
WERFEL Anna, ich bitte dich...
ANNA Es gibt Krieg. Da möchte ich ein
Souvenir von dir. Ein Andenken. Das bist du mir schuldig.
WERFEL Na schön.
ANNA Schreib mir eine Widmung drauf.
WERFEL Was soll ich denn schreiben?...
ANNA Schreib: «Für Anna, die mir
ihre Freiheit verdankt. Franz.»
WERFEL (schreibt:) «Für Anna,
die mir ihre Freiheit verdankt. - Warte, warte, warte...!
Was ist das? Wieso denn das?
ANNA Weißt du's nicht mehr?
WERFEL Keine Ahnung. Da mußt du mir
schon helfen. Gib mir wenigstens einen Hinweis.
ANNA Semmering... frühmorgens... Frühstückszimmer...
WERFEL Ach, du lieber Gott...!
ANNA Ja genau, in dieser Nacht war's. Aber
vielleicht möchtest du lieber nicht...
WERFEL Oh nein! Nein, nein, nein. Jezt mußt
du mir's schon sagen!
ANNA Es ist ja schon bald zwanzig Jahre her.
Im Sommer 1918. Ich war vierzehn. Wir verbrachten den Sommer
damals am Semmering, in dem Haus in Breitenstein. Die Mammi,
die kleine Manon und ich. Die Mammi war damals schon hochschwanger,
ich glaube im siebten Monat. Walter, damals ihr diensthabender
Ehemann, war weit weg, an der Front. Er war ja Offizier. Der
Krieg ging dem Ende zu. Es war abzusehen, daß es nicht
mehr lange dauern würde. Es gab kaum noch was zu essen.
Wir hatten praktisch gar nichts. Kein Fleisch, kein Brot,
keine Butter. Nichts. Ich mußte jeden Tag in den Wald,
Pilze sammeln, damit irgendwas auf den Tisch kam. Das war
unsere Hauptnahrungsquelle. Und ich mit meinen vierzehn Jahren
war dafür verantwortlich, ich mußte die Familie
ernähren. Und eines Tages kamst du uns besuchen. Es wae
an einem Wochenende. Ich mochte das gerne, wenn du zu Besuch
kamst. Die Mammi hatte mir Manon anvertraut, um die ich mich
zu kümmern hatte, und so war ich wenigstens vor ihren
Launen sicher. Nach dem Essen spielten wir vierhändig
Papis achte Symphonie auf dem Harmonium, dann gingen alle
schlafen.
Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich geweckt. Ich
hörte Stimmen und Geräusche, die aus dem Zimmer
über mir zu kommen schienen. Dort war Mammis Schlafzimmer.
Zuerst war ich sehr erschrocken und hatte furchtbare Angst,
denn ich erkannte Mammis Stimme gar nicht. Denn die Stimme
war so heiser und tief und wild. Ich dachte zuerst, jemand
ruft um Hilfe. Aber dann erkannte ich plötzlich, daß
es die Mammi war und ich spürte auch, daß es gar
keine Hilfeschreie waren, die sie ausstieß, sondern
irgendetwas anderes, fremdes, von dem ich aber nicht wußte,
was es war. Und dann war da noch eine Stimme. Die kannte ich
auch. Und das war deine Stimme. Die ich so mochte... dein
warmer, samtiger Tenor. Ich war sehr musikalisch, ich erkannte
ihn sofort. Und plötzlich - wie zur Bestätigung
- hörte ich auf einmal in dem ganzen Gestöhn und
Geschrei, wie sie dich beim Namen nannte, und immer wieder
rief: «Franzl! Oh, Franzl! Das ist ein Verbrechen. Das
dürfen wir nicht. Franzl! Du bringst mich um!! Du bringst
mich um!!! Oh mein Gott, du bringst mich um!!» - du
weißt schon, die Art von Poesie. Und das ging immer
so weiter und weiter, ich weiß nicht mehr, wie lange.
Und immer, wenn ich dachte, es ist vorbei, fing es wieder
von vorne an. Mit neuer Energie. Es kam wie in Wellen. Steigerte
sich langsam, wurde heftiger und heftiger, und das Atmen wurde
bei jedem Mal noch stärker, das Keuchen noch wilder,
das Schreien noch lauter... Bis sich der Sturm gegen Morgen
endlich legte und die kleine Manon, die sich die ganze Zeit
ängstlich an mich geklammert hatte, völlig erschöpft
in meinen Armen einschlief... und es auch mich in einen verzweifelten
Schlummer riß.
Am nächsten Morgen stürzte das Dienstmädchen
plötzlich in unser Zimmer. Sie war völlig in Panik
: «Anna! Komm schnell, komm schnell, deine Mutter...!
Ich glaube, sie stirbt!!» - Ich rannte hinauf. Als ich
in Mammis Zimmer kam, war alles voll Blut. Alles. Teppich,
Bettzeug, Kleider, alles. Und die Mammi lag mitten drin. Sie
blutete wie ein Schwein. Es war.... unvorstellbar. Ich rannte
die Stiegen hinunter... Da kamst du aus dem Frühstückszimmer.
Du warst ganz komisch. Du sahst so stolz und zufrieden aus.
Und als du mich sahst, mein entsetztes Gesicht, fragtest du
«Was ist denn los, Gucki?» Und ich sagte: «Geh,
lauf, telefonier dem Doktor! Die Mammi stirbt.» Von
einer Sekunde zur nächsten veränderte sich deine
Miene. Du griffst nach deinem Kopf, wie wenn du von einer
Kugel getroffen wärest, stießt irgendwelche unverständlichen
Sätze hervor und fingst an, wie ein Verrückter durch
das ganze Haus zu rennen, völlig planlos, völlig
hysterisch. Und immer noch hast du vor dich hingestammelt
und gestottert: «Oh Gucki, was habe ich getan?! Oh Gucki!
Oh, Gucki!» Du warst wie ein Kind. Ich mußte dich
beruhigen und auf dich aufpassen wie auf Manon, während
der Doktor, der aus dem Dorf heraufgeeilt war, versuchte,
Mammis Blutung zu stillen. Aber viel konnte er nicht tun.
Also brachte man die Mammi nach Wien zu Professor Halban,
wo sie am nächsten Tag den kleinen Martin entband. Er
kam fast zwei Monate zu früh. Mein armer, kleiner Bruder...
Er hatte keine Chance da draußen. Er hatte schlechte
Karten. Von dem Moment an, als man ihn in die Welt hineinstieß.
Er war so ein armes Geschöpf, so elend und arm. Er hat
immer nur geweint mit seiner kleinen, schwachen Stimme, immer
nur gewimmert und geweint... Als er zehn Monate später
tot war, ist die Mammi nicht einmal zu seinem Begräbnis
gekommen. Sie blieb lieber in Berlin, in sicherer Entfernung.
Sie hat Angst vor jeder Schwäche - bei sich selbst und
bei den anderen. Das alte Nietzsche Bla-bla: «Wer fällt,
den soll man auch noch stoßen...»! Ich glaube,
Burckhard hat ihr das beigebracht. Und wie ist er gestorben?
Einsam. Im Tiefsten ihres Herzens ist Alma ein entsetzlicher
Feigling. Ja... Ja, Franz, damals hast du mir meine Freiheit
geschenkt, damals, als ich vierzehn Jahre alt war. (Sie hat
fertig gepackt, schließt den letzten Koffer und ist
reisefertig.) Mach's gut, Franz. Paß auf auf dich. Sie
geht.
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