6d THE WAY IS THE GOAL
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Palästina, 1925. FRANZ WERFEL und HULDA auf dem Weg
zur Ansiedlung der jüdischen Pioniere. HULDA legt einen
raschen Schritt vor, den WERFEL kaum mithalten kann. Er atmet
bereits schwer.
WERFEL Mein
Gott, so rennen sie doch nicht so!
HULDA Was
ist denn los mit ihnen? Sie sind doch erst dreiunddreißig,
oder?!
WERFEL Oh
la la! Sie kennen sogar mein Alter?!
HULDA Ich
weiß noch viel mehr über Sie. Sie würden sich
wundern. Sie waren das Idol meiner Jugend.
WERFEL Ihrer
Jugend? Wie alt sind sie denn?
HULDA Bald
dreiundzwanzig.
WERFEL Dreiundzwanzig?
Oi oi oi! Was für ein biblisches Alter...!
HULDA Hören
Sie zu: wenn Sie witzig sein wollen, gehen Sie lieber zurück
zum Auto und leisten Sie ihrer frustrierten Frau Gesellschaft.
Die tut ohnehin nichts, als ununterbrochen vor sich hin zu
nörgeln.
WERFEL Wie
reden Sie denn?! Meine Frau ist nicht frustriert!
HULDA Ach
und wie! Und wie! Aber wer wäre das nicht an ihrer Stelle?
Nach allem, was Gustav Mahler ihr angetan hat...! Ihre Frau
hat man am Altar der Moderne geopfert. - Ich muß Ihnen
etwas gestehen: Sie sind mir kein Unbekannter. Ganz und gar
nicht. Ich kenne alles, was sie bisher geschrieben haben.
Oder vielmehr, was Sie veröffentlicht haben. Sie sind
ein wirklich viel versprechender Mann, und seit ihre Frau
sie in Pflege genommen hat, sind sie sogar ein sehr erfolgreicher
Dichter geworden. Mit einer glänzenden Karriere. Aber
Ihre wahre Stimme, ihren unverwechselbaren Klang... den hat
man bisher noch nicht vernommen. Aber das wissen Sie selbst
am besten. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Sie
solche Panik vor dem Vergessenwerden haben. Sie fühlen
sich doch verfolgt von dieser Vorstellung, oder?
WERFEL Ach
Gott! Wenn Sie damit andeuten wollen, daß Alma mich
davon abhält, meiner Berufung zu folgen, muß ich
sie leider enttäuschen. Sie ist das Beste, das mir in
meinem Leben hätte passieren können.
HULDA Oder
die größte Katastrophe, wie man's nimmt. Sie müssen
sich zur Wehr setzen!
WERFEL Warum
sollte ich mich zur Wehr setzen?
HULDA Sie
sind in den Klauen der europäischen Kultur gefangen.
WERFEL Die
europäische Kultur ist meine Kultur! Wenn ich das aufgebe,
bin ich ein toter Mann!
HULDA Wenn
sie sie behalten, werden sie ein toter Mann sein! Ziemlich
bald. Die Zeit wird über Sie hinweggehen.
WERFEL Sind
Sie eine Hellseherin? Schauen Sie in die Zukunft?!
HULDA Nein,
in die Vergangenheit, Herr Werfel. In die Vergangenheit.
WERFEL Ich
habe aber Beziehungen! Ich habe zum Beispiel eine sehr starke
Beziehung zu meiner Frau!
HULDA Wirklich?
Ich an Ihrer Stelle wäre mir da nicht so sicher!
WERFEL Also
eins weiß ich ganz sicher: daß ich eine sexuelle
Beziehung mit ihr habe, und was für eine! Und daran gestatte
ich Ihnen keinen Zweifel!
HULDA Ich
weiß nicht, ich hatte noch nicht die Ehre, Sie bei der
Ausübung dieser Beziehung zu beobachten, aber ich frage
mich, ob sie nicht auch nur ein Ersatz ist. Ein Surrogat von
Sexualität. Gerade in der Sexualität ist der Gebrauch
von Fetischen sehr verbreitet.
WERFEL Ein
Fetisch von Sexualität ? Was für ein Unfug! Was
soll denn das sein? Ich weiß doch, wozu ich imstande
bin! Und Alma auch! Wir haben niemals auch nur die Spur eines
«Ersatzes» geboten, wenn wir uns in den Armen
lagen - und das, solange wir uns kennen. Wann immer der eine
Verlangen zeigt, antwortet der andere mit Bereitschaft, und
das Gewünschte wird mit absoluter Präzision geliefert,
bis zur völligen Zufriedenheit beider Seiten. Was sagen
Sie jetzt?
HULDA Und
Sie wissen immer, wann es Zeit ist, aufzuhören?
WERFEL Ganz
im Gegenteil! Wir können überhaupt nicht aufhören!
Es geht so lange, bis wir beide um Hilfe schreien. «Es
ist Mord, Franz! Du bringst mich um!», schreit sie,
«Aber mach weiter! Bring mich um! Bring mich um! Töte
mich!!» Sie braucht das gar nicht zu sagen, ich kann
ohnehin nicht aufhören. Wir sind beide so... wollüstig,
daß es manchmal richtig weh tut. Es schmerzt. Aber ich
kann es ihr nicht ersparen, ich darf nicht. Am Anfang unserer
Beziehung war sie im siebten Monat schwanger - ich weiß
nicht, ob es mein Baby war oder das von Gropius, aber das
ist auch völlig egal, es zählte nicht! Ich habe
es eines Nachts aus ihr rausgepeitscht und rausgestoßen
wie ein Dampfhammer. Am nächsten Morgen sah es im Zimmer
aus wie auf einem Schlachtfeld, es war ein einziges Blutbad...
das arme Baby kam völlig zerstört zur Welt und viel
zu früh. Nach nicht mal zehn Monaten war alles vorbei.
Armes Kerlchen... mein kleiner Martin. Mein Sohn! - Was nennen
Sie denn da ein Surrogat, hmmm? Wo ist denn da der Ersatz?!
Wo ist denn da der Fetisch?!!
HULDA Wenn
die Wirklichkeit ihrer Rechte beraubt ist, bleibt als einzig
verläßliche Möglichkeit nur mehr der Schmerz.
Der physische Schmerz. Der einzige Dienst, den man sich dann
noch leisten kann, ist Erniedrigung, Verletzung und Qual.
Das ist alles, was von der Travestie des Lebens dann noch
übrig bleibt.
WERFEL Glauben
Sie das wirklich?
HULDA Alles,
was ich damit sagen möchte, ist, daß genau das
die verkommene Nahrung ist, die Sie verdammt sind wiederzukäuen,
bis sie daran ersticken. Nur weil Sie als Schriftsteller darauf
beharren, in den Grenzen der abendländischen Zivilisation
zu schreiben. Sie ist zum Untergang verdammt!
WERFEL Wollen
Sie, daß ich hierbleibe, bei Ihnen?
HULDA Aber
nein, ich lade Sie nur ein, uns auf eine Reise zu begleiten.
WERFEL Eine
Reise? Wohin?
HULDA Es
ist eine Reise ohne «wohin». Ohne Ziel. Was zählt,
ist nur die Reise. Der Weg ist das Ziel.
WERFEL Immer
unterwegs?
HULDA Immer
unterwegs.
HULDA Als
wir Europa verlassen haben, haben wir das getan, um uns neue
Möglichkeiten zu schaffen, nicht um uns einzuschränken.
Freiheit. Auch die des Scheiterns natürlich. Wir leben
auch nur vorübergehend auf diesen Hügeln da drüben.
Wir arbeiten tagsüber und abends setzen wir uns zusammen
und diskutieren über unsere Zukunft. Wir werfen Fragen
auf, wir beantworten sie nicht. Wir wissen auch nicht, welche
Art neues Leben wir zu erschaffen überhaupt imstande
sein werden, aber wir wissen, daß es mit nichts zu vergleichen
sein wird, was jemals zuvor existiert hat. Mit nichts. Keinerlei
Parallelen, keinerlei Anleihen. Aber wie es genau aussehen
wird, welche Form, welche Regeln, welche Gesetze - das wissen
wir nicht. Wir wissen auch nicht, wie die Beziehung zwischen
den Geschlechtern geregelt sein wird. Und wir betrachten das
als eine große Herausforderung. Eine Prüfung. Es
wird jedenfalls nicht das bekannte Herr-und-Sklave-Spiel sein,
unter dem wir schon seit tausend Jahren leiden. Aber was wird
an seine Stelle treten? Was? Wir wissen es nicht. Das ist
das Spannende, das ist das Aufregende, das Neue. Das ist der
Weg, von dem ich vorhin gesprochen habe. Sie erwarten immer
Antworten, wir aber stellen Fragen. Das ist der Unterschied.
Deshalb ist die Freiheit so groß, die vor uns liegt.
Aber auch die Ungewißheit. Die schöne Ungewißheit.
Teilen Sie sie mit uns. Ersetzen Sie die Bürde der Gewißheit
durch den Luxus der Ungewißheit, nehmen Sie teil an
unserem Abenteuer.
WERFEL Es
klingt wunderbar, wenn sie es erzählen, aber ich möchte
Sie nicht belügen: die Vorstellung ängstigt mich.
HULDA Warum?
Warum?! Ergreifen Sie die Gelegenheit beim Schopf, holen Sie
sich Ihre Jugend zurück, werden Sie wieder zum Kind.
WERFEL Was
meinen Sie denn damit? Wie soll das gehen?
HULDA Kinder
kennen die Namen von Dingen noch nicht. (Sie berührt
Franz' Gesicht) Gesicht. Mensch. Dichter. Ein Kind berührt
die Dinge zum ersten Mal. Unschuldig, ohne Erfahrung, angstfrei.
So, wie ich Sie jetzt berühre. Denn ich berühre
nicht den «Schriftsteller», nicht den «Mann».
Auch nicht sein «Gesicht». Ich berühre Sie.
Sie. Was bedeutet das? Bedeutet es Fleisch? Nein. Es bedeutet
Materie. Pure Energie. Nackt. Nacktheit überhaupt. Also
auch Dunkelheit. - Was fühlen Sie jetzt?
WERFEL Wärme.
Ich... es ist seltsam, aber ich... ich habe mich noch nie
so nah... an mir selbst gefühlt. Es ist fast wie... Glück.
Ja...! Ein Gefühl von Glück...! Sie haben recht.
Ich weiß es. Sie müssen recht haben. Sonst... Die
Zukunft liegt hier... sie liegt hier. Ich kann sie riechen.
Wie ist das möglich? Das träge, schläfrige
Monster... es badet sein Haar im Mittelmeer... plantscht mit
den Füßen im Pazifik... aber sein Herz schlägt
hier... hier in Kanaan... wo Gott erstmals zu den Menschen
gesprochen hat... sie aufgefordert hat... sich auf ein Abenteuer
einzulassen... sich einzulassen auf... auf...
MUSIK. In der Ferne das Pioniercamp. Die Pioniere tanzen einen
extatischen Tanz.
HULDA Das
ist Ihre Rettung. Keine Rettung ohne Rückkehr! Zu den
Wurzeln, zum Ursprung. hat uns losgerissen, weggerissen, überallhin
zerstreut... zerstreut...! Bleiben Sie bei uns, Franz. Franz,
bleiben Sie bei uns. Dann werden Sie ihre Stimme wiederfinden.
Die Stimme, die noch nie jemand gehört hat. Die ungeborene
Stimme. Die Stimme eines Kindes...
WERFEL Ja.
Ja. Ich bleibe. Ich bleibe. Ich... Ich bleibe. Ja! Ja!!...
Der Kreis der Pioniere öffnet sich und nimmt FRANZ WERFEL
und HULDA in seiner Mitte auf.
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