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Alma & Lissabon
 
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  Alma in Lissabon
 
 
 

ALMAS FLUCHT ÜBER LISSABON NACH NEW YORK

Im Mai 1940, während der deutschen Invasion in Frankreich, versuchten Alma und Franz Werfel verzweifelt, ihre nicht mehr gültigen U.S.-Visa von 1938 zu erneuern. Aus Furcht vor dem vorrückenden deutschen Militär beschlossen sie aber im Juni 1940 ohne gültige Papiere nach Spanien zu flüchten. Immerhin hatten sie eine Summe Geldes bei sich, von der andere Emigranten nur träumen konnten. Franz Werfel war zweifellos extrem gefährdet. Laut einem unbestätigten britischen Rundfunkbericht war er sogar von Deutschen erschossen worden, hieß es, durchaus glaubhaft, im Sommer 1940.

 

Werfels tschechischer Reisepaß
Werfels Mühen um eine Ausreise aus Frankreich sind in ihm genau abzulesen: Zunächst ist das erste U.S.-Visum eingetragen, datiert vom 14.Oktober 1938 in Marseille; eine französische Ausreiseerlaubnis nach Portugal via Spanien, Grenzort Hendaye, ausgestellt in Bayonne am 23. Juni 1940 (beide konnten nicht genützt werden); ein portugiesisches Transitvisum in die U.S.A. - ausgestellt in Marseille am 7. August 1940, im«halb von 30 Tagen zu benützen (verfallen); die spanische Durchreiseerlaubnis nach Portugal, datiert vom 8. August 1940 in Marseille; ein portugiesisches Durchreisevisum, ausgestellt in Marseille am 31. August 1940; eine Einreiserlaubnis für Mexiko, ausgestellt in Marseille am 27. August 1940; einen Stempel der "Nea Hellas", 4. Oktober 1940; das zweite Einreisevisum in die U.S.A. vom 22. März 1941 aus Nogales an der mexikanischen Grenze, in dessen Folge Werfel am 18. Juni die "First Papers" des Einbürgerungsverfahrens erhielt.

 

Auf abenteuerliche, gefährliche und nerven zermürbende Weise fuhren Alma und Franz Werfel zwei Wochen lang in gemieteten Autos zuerst nach Bordeaux, dann an die spanische Grenze im Westen Frankreichs. Der Grenzübertritt war aber nicht möglich, man mußte wieder zurück nach Marseille.

Am Ende der Irrfahrt endlich in Lourdes gestrandet, bemühten sich die Ehepaare Werfel und Victor und Bettina von Kahler (man hatte einander kurz zuvor in Biarritz zufällig getroffen), zumindest für die Rückreise nach Marseille Papiere zu erhalten.
Werfel beschäftigte sich während des siebenwöchigen Aufenthalts in Lourdes mit der Lokalgeschichte der heilig gesprochenen Bernadette Soubirous. Er gelobte, einen Roman über sie zu schreiben, falls ihm die Flucht nach Amerika gelinge. Aus diesem Vorsatz wurde "Das Lied von Bernadette", ein Roman, der später in Hollywood mit grossem Erfolg verfilmt wurde.

Aus einem Brief Franz Werfels an Johannes Urzidil vom April 1940 aus Frankreich:
"Ich arbeite wieder, obwohl es mir physisch nicht gut geht. Der Sinn meiner Arbeit wird immer problematischer. Das Exil ist das, was man in der Musik eine ‚enharmonische Verwechslung‘ nennt. Man ist derselbe wie früher, mit derselben Begabung, denselben Fehlern. Und doch hat alles plötzlich eine andere Bedeutung bekommen. Derselbe Wert notiert anders und vor allem – minder. Eine geschwächte Situation ist ein Mißerfolg an sich. Die Menschen eskomptieren ihn. Man muß also um die Fünfzig neu beginnen.

In Marseille wohnten die Werfels unter falschem Namen im Hotel "Louvre & Paix" an der Cannebière - auch wenn sie für deutsche Spitzel leicht erkennbar waren, vor allem durch Alma Mahler-Werfels rücksichtsloses und lautes Auftreten.
Die Papiere zur Ausreise aus Frankreich, zur Durchreise durch Spanien und Portugal, für Schiffspassage und Einreise in die U.S.A. half schließlich der Emissär des Emergency Rescue Committees, Varian Fry, besorgen. Er verhalf unter abenteuerlichen Umständen und unter Einsatz seines und seiner Mitarbeiter Leben mehreren tausend Emigranten zur Flucht.

 

Franz Werfels Passierschein, gültig für einen Monat (25. August bis 24.September 1940)

 

Am 13. September 1940 gingen die Werfels, gemeinsam mit dem siebzigjährigen Heinrich Mann, dessen Frau Nelly und Golo Mann, in stundenlangem Marsch zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien.

Die 12 Koffer, die neben Manuskripten Werfels auch Partituren von Gustav Mahler und Anton Bruckners 3. Symphonie enthielten, brachte Varian Fry ihnen mit der Bahn nach. Dann reisten die Flüchtlinge per Bahn nach Madrid, per Flugzeug weiter nach Lissabon, und letztendlich per Schiff, der "Nea Hellas", in die rettende Freiheit - nach New York.

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LISSABON

Es war schon Abend, als wir in Lissabon ankamen - der Flugplatz noch nicht fertig und ohne Licht. Wie überall auf Ämtern standen wir stundenlang sinnlos herum. Der Beamte musterte streng das Verzeichnis der Werke Franz Werfels, die der Herzog von Württemberg, ein hoher Geistlicher, zur Rekommendation für Werfel aufgeschrieben hatte. Er stutzte, als er zu dem Titel Paulus unter den Juden kam.
»Ach, Sie kommen wohl aus jüdischer Familie?«

Franz Werfel sagte nicht ja, nicht nein, und zeigte verwirrt nur auf mich, wobei der Beamte ein höhnisches Zeichen machte, so als ob meine Herkunft für jeden ersichtlich sei. Juden durften damals nicht nach Portugal hinein oder waren doch höchst ungern gesehen.

Nach langem Nachdenken gab uns der Beamte den Einlaßstempel. Endlich ein Hauch von Freiheit für uns! In der Nähe von Lissabon, im Estoril-Hotel, mußten wir nun zwei Wochen warten. Die ersten Tage einer paradiesischen Ruhe in einem paradiesischen Lande sind unvergeßlich, nach der Qual der letzten Monate.
In Lissabon erlebten wir recht merkwürdige Dinge mit den Menschen. Eine große Betrügerei und eine große Liebestat.

 

Almas und Franz Werfels Meldezettel vom Grande Hotel d'Italia Estoril vom 18. September 1940. Als Nationalitär ist bei beiden "Tschecho Slowakei" angegeben. Bemerkenswert ist, dass Alma hier ausnahmsweise mit "Alma Werfel-Mahler" unterschrieben hat und nicht - wie ihr ganzes sonstiges Leben lang - mit "Alma Mahler-Werfel". Beide verwendeten zur Vorlage Reisedokumente des American Foreign Service. Die Abreise aus dem Hotel erfolgte am 18. Oktober 1940.
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Ein Herr B. aus Wien, von unserem Freund Zernatto uns vorgestellt, gab vor, meine zweihundert englische Pfund zu einem günstigeren Kurse wechseln zu können als in irgendeiner Bank. Ich gab ihm das Geld. Am nächsten Tag beteuerte er, die Pfunde von mir nicht bekommen oder das ganze verloren zu haben. Er frug noch nach Merkmalen an den Banknoten, die mir aber im Augenblick entfallen waren. Es war ein harter Kampf, und Franz Werfel mußte einen ganzen Tag auf B. einreden, bis er ihn mürbe gemacht hatte. Er gab uns das Geld eine Stunde vor unserer Abreise nach Amerika zurück und behauptete, die Noten aus eigener Tasche angeschafft und bezahlt zu haben. Auf dem Schiff besah ich die Banknoten - und fand meine eigenen wieder, die ich nämlich daran erkannte, daß sie rote Ecken hatten, von einem innen rot gefütterten Briefumschlag herrührend, in dem ich sie jahrelang verwahrt hatte. Es fehlten allerdings fünf einzelne Pfundnoten, die B. schon gewechselt hatte.

Ich war am Tage unserer Abreise nach Amerika allein im Estoril Hotel geblieben, packte und übersiedelte aufs Schiff. Der mir fremde Hotelportier spürte, daß ich wegen des Fehlens meiner englischen Pfunde knapp an Geld war, und sagte: »Aber lassen Sie doch die Rechnung! Ich lege es für Sie aus... und Sie schicken mir das Geld von New York zurück.«

Das hat mich wieder mit der Menschheit ausgesöhnt.

 

LISSABON IST AUSVERKAUFT
Eugen Tillinger ("Aufbau" vom 12.10.1940)

Für jemanden, der diese Stadt von früher kennt, ist es geradezu unvorstellbar, wie sie sich innerhalb ganz kurzer Zeit verändert hat. Das Leben, das hier herrscht, steigert sich von Tag zu Tag. Immer neue Emigranten aus Frankreich und den von den Deutschen okkupierten Gebieten kommen an. Am Rossio Platz, im Zentrum der Stadt, hört man kaum ein Wort Portugiesisch. Hingegen vernimmt man so ziemlich sämtliche Sprachen und Idiome, die es gibt, vor allem aber Französisch, Englisch und Deutsch. Doch auch Polnisch, Holländisch und Flämisch klingt einem entgegen.

Lissabon ist ausverkauft. Als Vergleich kann man vielleicht die paar Wochen in Salzburg während der alten Festspiele heranziehen: die Hotels sind überkomplett, man vermietet Badezimmer und legt Matratzen in die Korridore. Cafäs und Restaurants sind überfüllt. Seit vielen Jahren hat es so etwas hier nicht gegeben. Die Stadt lebt auf. Gewaltige Summen ausländischen Geldes sind ins Land gekommen und werden von den Fremden in Umlauf gebracht. Die Portugiesen wissen das aber auch zu schätzen und sind gegenüber den Fremden von einer bezaubernden Zuvorkommenheit. Offiziell ist man streng neutral ... Die Neutralität wird sogar in den Zeitungskiosken beachtet; die englische und deutsche Presse, Tageszeitungen und Magazine hängen nebeneinander und zwar immer in Parität: 10 Tageszeitungen aus London müssen neben 10 Tageszeitungen aus Berlin hängen usw.

 

"Danke für die zweite Lebensrettung" - Telegramm Franz Werfels aus Estoril an Rudolf Kommer vom 19. September 1940

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DIE "NEA HELLAS" - DAS LETZTE SCHIFF IN DIE FREIHEIT

Die "Nea Hellas" wurde ursprünglich als "Tuscania" für die Anchor Lines von Fairfield Shipbuilding Ltd. zwischen 1919 and 1921 gebaut. Der griechische Reeder Leonidas Goulandris kaufte die "Tuscania" und taufte sie um in "Nea Hellas" , deren erste Reise 1939 stattfand.
Mehr über die "Nea Hellas": members.aol.com/nea%20hellas/neahellas.html

 

Die "Nea Hellas", das letzte offizielle Schiff von Lissabon nach New York 1940 mit der griechischen Flagge

 

aus ALMA-MAHLERS AUTOBIOGRAPHIE "MEIN LEBEN":

Wir hatten endlich Kabinen im letzten griechischen Schiff >Nea Hellas<. Das Schiff war mäßig, die Billetts teuer, das Essen zum Abgewöhnen schlecht.

Kurz vor unserer Abreise von Marseille war unser Gepäck aus Bordeaux angekommen, wurde sofort nach New York weiterbefördert, wobei wieder ein Teil verloren ging, diesmal aber endgültig.

Das Meer war langweilig, wie immer, denn nur die Küsten sind interessant, und auch nur die von Menschen besiedelten. Sonst ist die Monotonie in der Natur groß. Wir können die absolute Größe nicht in uns aufnehmen.
Heinrich Mann blieb in seiner Kabine, weil ihm schlecht war. Auch war er böse auf die Welt Als sein Neffe Golo ihn besuchen ging, lag er im Bett und zeichnete gerade Weiber mit großen Busen, manchmal auch nur letztere allein.

Auf dieser Reise waren wir der Welt wirklich abhanden gekommen. Nichts von außen konnte uns berühren. Der Erlebnisdruck der letzten Monate, die Ahnung, ja Gewißheit einer vollkommenen Freiheit waren überwältigend. Wir gingen kaum auf Deck - lagen meist in unseren Kabinen, lasen und sprachen. Die Übungen mit den Rettungsgürteln und Jacken machten wir nicht mit. Wir schleppten uns müde in den verwahrlosten Speisesaal. Die )Nea Hellas( war ein altes griechisches Schiff und machte vermutlich ihre letzte Fahrt, denn die Kriegsgerüchte verdichteten sich täglich. Die verdorbenen Speisen waren ekelhaft.

Mitten im Ozean wurde der Krieg mit Griechenland proklamiert.

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NEW YORK

Mutig und voll neuer Hoffnung stiegen wir am 13. - ja, leider am 13. Oktober 1940 an Land. Zu unserem Unglück sollte die ominöse Zahl recht behalten.

13. Oktober 1940 - New York
Endlich - endlich standen wir wieder auf wahrhaft freiem Boden, und das Vorausgegangene versank in die Nacht des Vergänglichen.
Hätte ich mich nicht vor den andern geniert - ich hätte den Boden Amerikas geküßt.

Die Ankunft im New Yorker Hafen ist wie immer ein grandioses Erlebnis. Wir wurden von einer großen Menge von Freunden am Pier erwartet, alle hatten Tränen in den Augen und wir nicht minder.

 

Oben: Alma beim Verlassen der „Nea Hellas“ in Hoboken, New Jersey am 13. Oktober 1940. Hinter ihr (tw. verdeckt) Nelly Mann, die Ehefrau Heinrich Manns.

Links: Zeitungsbericht der New York Times vom 14. Oktober 1940:
Die geflohenen Autoren, darunter Franz Werfel, Alfred Polgar, Heinrich und Golo Mann wurden noch am Pier interviewt. Sie beschrieben den Weg der Flucht nur ungefähr, um die zurückgebliebenen Personen, die die Flucht noch vor sich hatten, nicht zu gefährden.

 

28. Dezember - Chicago
Auf dem Wege nach Kalifomien.
Heute sind wir hier angekommen, nachdem wir fast zehn Wochen in New York zubrachten. Es war dort ein bißchen zuviel Trubel, aber wichtig und reich war die ganze Zeit. Viel Liebe, viele Freunde, große Bewegung - und das Glück der Freiheit!

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"MEIN LEBEN" (aus Almas Autobiographie)

 

 

24. August 1940 - Marseille
Louis Gillet ist hergekommen, um uns zu helfen. Er ist zwar einer der "Unsterblichen" und sehr berühmt in Frankreich, aber momentan ist all seine Macht dahin. Der Maire empfing ihn nicht einmal.

Heinrich Mann, ohne Frau, war recht angenehm, wenn auch etwas grobschlächtig.
Er spricht manchmal sehr gescheite Dinge, wenn er aus seiner Lethargie aufwacht. Er sagte zum Beispiel: »Ein Mensch kann eine Weile auf dem Kopf stehen... eine Nation länger... aber dann muß sie umfallen.«

Und fortwährend kamen neue Fluchtideen in Sicht.

Einmal sollten wir in ein kleines Grenzörtchen fahren, übernachten, uns in der Früh um fünf an einen Friedhof heranpirschen, wo hinter einem Holzhaus uns Leute erwarteten., die uns über den Friedhof und über die Grenze bugsieren sollten. Dieser Plan war aber aBzu vage und wurde verworfen.

Weiter sollte für alle tschechischen Emigranten ein Schiff gechartert und das Ganze als Rotes Kreuz deklariert werden - wobei ich als Oberin fungieren sollte.
Von den Amerikanern, die sich anfangs erboten hatten, uns über die Grenze zu bringen, war nichts mehr zu hören, nichts mehr zu sehen. Franz Werfel versuchte es ein paarmal, zum Vertreter der Unitarier, Varian Fry, vorzudringen - es war unmöglich.

Mein Geburtstag am 31. August bekam noch als Geschenk die Ankunft der Nelly Mann, die in Nizza gepackt hatte.

September 1940
Am 3. September fuhren wir weit hinaus zum amerikanischen Konsulat; die Taxifahrt kostete uns ein kleines Vermögen. Alle Menschen waren sehr erregt. In strahlender Hitze saßen wir - mehrere Stunden. Von unserem lieben Freund Kommer in New York hatten wir ein Telegramm erhalten, in welchem er uns mitteilte, daß Cordell Hull für uns an Mr. Bingham, den amerikanischen Konsul in Marseille, gekabelt habe.

Der Konsul wußte von keinem Kabel.
Als wir aber insistierten, brachte es Mr. Bingham mißmutig an...
Diese Wochen in Marseille waren unerträglich. Täglich andere Gerüchte, jede Woche neue Kommissionen, um alle Depots auszurauben und nach Deutschland zu schaffen... Reis, Nudeln, 01, Zuckert Und hier war der Hunger unterdessen gestiegen, es war ein armes Marseille, das wir wiederfanden. Man bekam wenig und schlecht zu essen. Seife konnte man nicht mehr kaufen, überhaupt kein Fett. Butter kannte man nur mehr vom Hörensagen.
Und täglich wanderten wir zu den Herren Konsuln, die uns ihre ganze Macht fühlen ließen.

In Lourdes bemühte sich der Direktor des Hotels >Vatican< um unser verlorenes Gepäck. Es fiel ihm ein, daß er einen Freund des Bahnhofsvorstehers in Bordeaux kenne, und er schrieb nun Brief auf Brief, und endlich kam ganz allein und verwaist der kleine, nun zerfetzte Koffer mit den Partituren der Symphonien von Gustav Mahler und der Dritten von Anton Bruckner in Marseille an.. Das Wichtigste hatte ich ja nun, aber wir waren jetzt überzeugt, daß das restliche Gepäck verloren war.
Franz Werfel war äußerst erregt über die verwirrenden Gerüchte, die er täglich vom tschechischen Konsulat heimbrachte. Er stände zuoberst auf der Liste der Auszuliefernden... Er warf sich täglich aufs Bett und weinte. Gott sei Dank behielt ich wenigstens meinen Kopf oben, denn so konnte ich ihn immer wieder beruhigen. Er war ja auch der bei weitem mehr Gefährdete.

Das versprochene Ausreisevisum kam und kam nicht. Wir mußten an böse Absicht der zuständigen Behörde glauben und beschlossen nach wochenlangem Warten, ohne das Visum zu fliehen. Die Amerikaner hatten einen Mann, Mr. Fry, geschickt, der uns allen helfen sollte. Er tat das recht ungezogen und mürrisch; so zog er die Abreise weitere vierzehn Tage hin, bis wir endlich eine Entscheidung herbeiführten. Wir gingen zu Mr. Fry und verlangten zu wissen, wann endlich gegangen werden sollte. Und es stellte sich heraus, daß wir uns noch in derselben Nacht, um fünf Uhr früh, bereithalten sollten...

Die Tage vorher waren wir wieder von einem Konsulat zum andern gejagt, aber nach dem amerikanischen Papier bekamen wir die andern Visa im Handumdrehen. Der tschechische Konsul war ein wahrer Engel, und Franz Werfel konnte durch ihn etwa fünfzig von seinen Kollegen tschechische Visa verschaffen. Alle deutschen Emigranten waren ja nun staatenlos, und alle Osterreicher waren automatisch Deutsche geworden. In den engen Räumen des tschechischen Konsulats balgten sich die Herrschaften und Betrüger - bis auf die Straße standen die Emigranten, gestikulierten und brachten sich und den Konsul damit in Gefahr. Die Polizei war schon aufmerksam geworden. (Später wurde der Konsul verhaftet, lebt aber jetzt wieder in Rang und Ehren.)

Trotz Angst und Sorgen sahen wir noch eine Menge Menschen, die ebenso zersorgt waren wie wir, die uns aber doch vom eigenen Elend ablenkten. Der Name Werfel durfte nicht genannt werden, die bittstellenden Emigranten aber riefen laut ins Telefon: »Guten Tag, Herr Werfel - ich darf meinen Namen nicht nennen l« Das Telefon stand in der Halle unseres Hotels und konnte von jedermann abgehört werden. Neben uns wohnte die Gestapo. Wenn sie kamen, wurden wir vom Direktor des Hotels gewarnt. Er weigerte sich, J ' ie Besucherliste des Hotels auszuliefern... Wenn wir nicht auf einem der Konsulate herumstehen mußten, fuhren wir ans Meer hinaus, an den Strand. Die Möwen kreischten, der Dunst über den Wassern roch weit, gute Ideen kamen... es waren gesegnete Stunden... als wenn nichts Böses und Unheimliches auf der Welt wäre und auf uns lauerte.

Nach unserem Besuch bei Mr. Fry stürzten wir also nach Hause – es war keine Zeit zu verlieren. Unterdessen war sogar unser großes Gepäck angekommen. Schnell wurde wieder einmal gepackt... und das einzige, was Mr. Fry wirklich geleistet hat, war, daß er das ganze Gepäck von uns fünfen über die Grenze brachte.
Meine Freundin Busch Meier-Graefe blieb mit mir die ganze Nacht wach, bis wir an die Bahn mußten.

Es war der 12. September. Um fünf Uhr in der, Früh fuhren wir mit Heinrich, Nelly und Golo Mann von Marseille ab. Franz Werfel hatte am Tage vorher alle seine Schriften und Skizzen in einer Aschenschale verbrannt.
In Perpignan verweilten wir ein paar Stunden, bis uns der Zug nach Cerbére bringen sollte. Dort wurden wir in einem völlig leerstehenden Hotel einquartiert und erwarteten unsere Ordres. Die beiden Amerikaner, Mr. Fry und ein junger, uns unbekannter Mann, hatten gehofft, daß man uns mit unseren amerikanischen Papieren durchlassen werde, was aber leider nicht gelang.
So war also der erste Schachzug misslungen!

Ich stand früh auf und ging zum Bahnhof, wo eine Zusammenkunft stattfinden sollte. Oben in dem leeren unheimlichen Hotel hatte es mich nicht lange gelitten. Frühstück war keines zu bekommen. Ein Tee war alles. Nun wurde Kriegsrat gehalten. Man beschloß, es aufs Geratewohl und ohne Papiere zu versuchen. Man wollte sehr früh aufbrechen; die spanische Sonne brannte schon um sechs Uhr früh höllisch auf uns nieder. Golo Mann, sonst ein äußerst verläßlicher Mensch, war unauffindbar. Er kam nach zwei Stunden sehr erfrischt von einem Meerbad, und nun endlich konnten wir an die Besteigung der Pyrenäen denken.

Im Dorf fiel es Nelly Mann plötzlich ein, daß es Freitag der dreizehnte sei, und sie wollte durchaus umkehren. Franz Werfel und ich gingen voraus, um der Diskussion und ihrem wahnwitzigen Geschrei ein Ende zu machen. Wir sollten ja als harmlose Spaziergänger gelten und nicht als Schmuggler. Gleich nach dem Ortsende bog der junge Amerikaner von der Straße ab und ging auf steinigem Pfade steil aufwärts. Bald kletterten wir weglos. Die Ziegen vor uns stolperten, die Schiefersteine flimmerten, sie waren spiegelglatt, und wir mußten hart an Abgründen vorbei. Zum Festhalten, wenn man ausglitt, gab es nur Disteln.

So ging es zwei Stunden steilsten Klimmens. Dann empfahl sich der Jüngling und eilte zurück, um Heinrich Mann noch die Richtung zu zeigen. Wir aber standen am Bergesgipfel ganz allein. Von weitem sahen wir das Hüttchen des spanischen Grenzpostens, es leuchtete weiß auf den weißen Steinen. Dort hatten wir hinzugehen. Mühsam krochen wir den Berg hinab und klopften angstvoll an die Tür, die sich bald öffnete und einen sturblickenden katalanischen Soldaten zeige, der nur Spanisch verstand. Das einzige, was, ihm einging, waren die Zigarettenschachteln, die wir in seine Taschen gleiten ließen. Er wurde freundlicher und machte uns Zeichen, ihm zu folgen. Endlich durften wir auf einer gangbaren Straße geben - aber wohin führte uns dieser Trottel? Zum französischen Grenzposten zurück! Wir hätten also ruhig mit einem Auto hinfahren können. Wir wurden vor den Chef geführt... Ich hatte alte Sandalen an, schleppte eine Tasche mit dem restlichen Geld und Schmuck und mit der Partitur der 3. Symphonie von Bruckner.

Die Flucht durch Frankreich hatte fast unser ganzes Geld aufgezehrt, hunderttausend Francs, die ich Gott sei Dank unter Protest Werfels bei der Bank abgehoben hatte. Er hatte Angst, jemand könne es gesehen haben und mich deshalb umbringen.

Wir müssen äußerst heruntergekommen gewirkt haben, und die Opern-Schmuggler in >Carmen( machten es bestimmt besser. Es war uns ganz elend von dem Marsch in der glühenden Sonne, und der Chef wurde plötzlich sehr lieb und winkte mit der Hand, man solle uns durchlassen. Stempel hatte er uns zwar keinen gegeben - so gut war er wieder nicht. Aber unser Weg hinab schien nun ohne Hindernisse.

Schweißtriefend und todmüde wankten wir nun zurück, stiegen über theatralische Eisenketten, die Frankreich von Spanien trennen, und begaben uns, nachdem der Soldat hinunter ins Zollhaus telefoniert hatte, auf den weiteren Abstieg. Am Weg nach Port Bou fand ich ein halbes Hufeisen, ich steckte es ein, wir nahmen es als Glückszeichen und schritten froher aus. Unterdessen war es spät geworden. Die Hitze war unvorstellbar, aber kein Beamter war zu sehen. Sie hielten augenscheinlich Siesta, Die Angestellten, denen wir uns zuerst mit Devotion genähert hatten - weil wir sie für Staatsfunktionäre hielten -behandelten uns mit unheimlicher Liebenswürdigkeit. Sie versprachen uns gutes Gelingen, brachten Wein, schimpften auf Mussolini, der ihnen das Getreide und Fett wegnähme, und auf Franco, ohne Grundangabe. Katalanien war ja stets links, und wir faßten Mut, trotz größter Erschöpfung. - Endlich kamen die andern, Weggefährten an. Wir taten, als kennten wir uns nur flüchtig, und Golo Mann flüsterte ich rasch zu, soviel Geld als möglich an die Kerle (es waren gewöhnliche Träger) zu verschenken. Diese hatten sich schon laut darüber unterhalten, daß ein Sohn von Thomas Mann von der Partie sei.

Die Leute sprangen wie die Wilden um uns herum, nachdem wir ihnen so ziemlich alles gegeben hatten, was an Francs in unseren Börsen war.
Sie telefonierten um die besten Zimmer im Ort und rissen sich um unser aller Gepäck, als wir nach, vielstündigem Warten endlich zur Paßkontrolle an die Station beordert wurden. Man führte uns wieder über eine üble Abkürzung, bei der man durch anstrengendes Kraxeln nur Zeit verlor.

jetzt erst aber kam der gefürchtete Moment: die Ankunft in Port Bou. Und es zeigte sich wie immer, die gefährlichen Situationen erlebt der Mensch mutterseelenallein. Nirgends ein Amerikaner oder Helfer.

Wir saßen wie arme Sünder auf einer schmalen Wandbank nebeneinander, und unsere Paß-Scheine wurden an Hand von Kartotheken Überprüft. Heinrich Mann fuhr unter falschem Namen, als Heinrich Ludwig. Franz Werfel, mit eigenem Namen' war gefährdet, und Golo Mann als Sohn seines Vaters auch. Golo aber saß seelenruhig und las in einem Buch, als ob ihn der ganze Krempel nichts anginge. Nelly Mann hatte ihr ' en alten Mann mehr getragen als geführt, ihre Strümpfe hingen wegen der Disteln am Wege in Fetzen von ihren blutenden Waden.

Nach qualvollem Warten endlich bekam jeder sein Papier mit Stempel zurück. - Wenn ich bedenke, wieviele Männer sich oben am Berg umgebracht haben oder ins spanische Gefängnis kamen, so muß ich von großem Glück sagen, daß die Behörde hier unsere amerikanischen Papiere anerkannte.

Wir suchten und fanden nun Mr. Fry, der unser Gepäck hatte. Und so gingen wir im verdämmernden Abend irgendwohin, wo für uns ein Zimmer bestellt war. Das Hotel war im Bürgerkrieg fast ganz zerschossen worden. Es standen nur noch ein primitives Speisezimmer und drei bis vier schäbige Schlafzimmer. Das ganze Haus sah aus wie ganz Spanien... es war eine blutende Wunde.
Am Abend ist im Gastzimmer ein junges Paar vom Maire getraut worden. Das Rathaus war auch zerstört.

So schliefen wir bis vier Uhr morgens - einen wahren Todesschlaf. Erwachten schreckhaft, denn um sechs Uhr früh ging natürlich wieder der Zug. Auf der ganzen Flucht gingen alle Züge immer zwischen drei und sechs Uhr in der Früh.
So ratterten wir nach Barcelona. Die Stadt ist vom Bürgerkrieg stark verwüstet, ausgehungert, verarmt... muß aber einmal sehr schön gewesen sein. Franz Werfel und ich saßen am Nachmittag vor einem Kaffeehaus - die armen Kinder leckten uns das Eis vom Teller. Man zahlt mit zerfetzten alten Marken... alles ist brüchig und trostlos.

Wir verbrachten zwei Tage des Aufatmens in Barcelona und fuhren dann per Bahn nach Madrid, fünfzehn Stunden.
Die Träger dort rieten zum Bahnhofshotel, und wir konnten ja nicht wissen, daß wir uns in eine Nazihölle führen ließen. Die Behandlung war entsprechend. Der Portier sagte zu Golo Mann: »Jetzt kommt ihr Juden daher, weil ihr überall hinausgeschmissen wurdet l«

Man hatte uns gewarnt, nicht mit der Eisenbahn nach Portugal zu fahren, da an der portugiesischen Grenze alle Emigranten glatt eingesperrt wurden - darum mußten wir fliegen. Um drei Uhr nachmittags flogen wir von Madrid nach Lissabon.

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