24. August 1940 - Marseille Louis Gillet ist hergekommen, um uns zu helfen. Er ist zwar einer der "Unsterblichen" und sehr berühmt in Frankreich, aber momentan ist all seine Macht dahin. Der Maire empfing ihn nicht einmal. Heinrich Mann, ohne Frau, war recht angenehm, wenn auch etwas grobschlächtig. Er spricht manchmal sehr gescheite Dinge, wenn er aus seiner Lethargie aufwacht. Er sagte zum Beispiel: »Ein Mensch kann eine Weile auf dem Kopf stehen... eine Nation länger... aber dann muß sie umfallen.« Und fortwährend kamen neue Fluchtideen in Sicht. Einmal sollten wir in ein kleines Grenzörtchen fahren, übernachten, uns in der Früh um fünf an einen Friedhof heranpirschen, wo hinter einem Holzhaus uns Leute erwarteten., die uns über den Friedhof und über die Grenze bugsieren sollten. Dieser Plan war aber aBzu vage und wurde verworfen. Weiter sollte für alle tschechischen Emigranten ein Schiff gechartert und das Ganze als Rotes Kreuz deklariert werden - wobei ich als Oberin fungieren sollte. Von den Amerikanern, die sich anfangs erboten hatten, uns über die Grenze zu bringen, war nichts mehr zu hören, nichts mehr zu sehen. Franz Werfel versuchte es ein paarmal, zum Vertreter der Unitarier, Varian Fry, vorzudringen - es war unmöglich. Mein Geburtstag am 31. August bekam noch als Geschenk die Ankunft der Nelly Mann, die in Nizza gepackt hatte. September 1940 Am 3. September fuhren wir weit hinaus zum amerikanischen Konsulat; die Taxifahrt kostete uns ein kleines Vermögen. Alle Menschen waren sehr erregt. In strahlender Hitze saßen wir - mehrere Stunden. Von unserem lieben Freund Kommer in New York hatten wir ein Telegramm erhalten, in welchem er uns mitteilte, daß Cordell Hull für uns an Mr. Bingham, den amerikanischen Konsul in Marseille, gekabelt habe. Der Konsul wußte von keinem Kabel. Als wir aber insistierten, brachte es Mr. Bingham mißmutig an... Diese Wochen in Marseille waren unerträglich. Täglich andere Gerüchte, jede Woche neue Kommissionen, um alle Depots auszurauben und nach Deutschland zu schaffen... Reis, Nudeln, 01, Zuckert Und hier war der Hunger unterdessen gestiegen, es war ein armes Marseille, das wir wiederfanden. Man bekam wenig und schlecht zu essen. Seife konnte man nicht mehr kaufen, überhaupt kein Fett. Butter kannte man nur mehr vom Hörensagen. Und täglich wanderten wir zu den Herren Konsuln, die uns ihre ganze Macht fühlen ließen. In Lourdes bemühte sich der Direktor des Hotels >Vatican< um unser verlorenes Gepäck. Es fiel ihm ein, daß er einen Freund des Bahnhofsvorstehers in Bordeaux kenne, und er schrieb nun Brief auf Brief, und endlich kam ganz allein und verwaist der kleine, nun zerfetzte Koffer mit den Partituren der Symphonien von Gustav Mahler und der Dritten von Anton Bruckner in Marseille an.. Das Wichtigste hatte ich ja nun, aber wir waren jetzt überzeugt, daß das restliche Gepäck verloren war. Franz Werfel war äußerst erregt über die verwirrenden Gerüchte, die er täglich vom tschechischen Konsulat heimbrachte. Er stände zuoberst auf der Liste der Auszuliefernden... Er warf sich täglich aufs Bett und weinte. Gott sei Dank behielt ich wenigstens meinen Kopf oben, denn so konnte ich ihn immer wieder beruhigen. Er war ja auch der bei weitem mehr Gefährdete. Das versprochene Ausreisevisum kam und kam nicht. Wir mußten an böse Absicht der zuständigen Behörde glauben und beschlossen nach wochenlangem Warten, ohne das Visum zu fliehen. Die Amerikaner hatten einen Mann, Mr. Fry, geschickt, der uns allen helfen sollte. Er tat das recht ungezogen und mürrisch; so zog er die Abreise weitere vierzehn Tage hin, bis wir endlich eine Entscheidung herbeiführten. Wir gingen zu Mr. Fry und verlangten zu wissen, wann endlich gegangen werden sollte. Und es stellte sich heraus, daß wir uns noch in derselben Nacht, um fünf Uhr früh, bereithalten sollten... Die Tage vorher waren wir wieder von einem Konsulat zum andern gejagt, aber nach dem amerikanischen Papier bekamen wir die andern Visa im Handumdrehen. Der tschechische Konsul war ein wahrer Engel, und Franz Werfel konnte durch ihn etwa fünfzig von seinen Kollegen tschechische Visa verschaffen. Alle deutschen Emigranten waren ja nun staatenlos, und alle Osterreicher waren automatisch Deutsche geworden. In den engen Räumen des tschechischen Konsulats balgten sich die Herrschaften und Betrüger - bis auf die Straße standen die Emigranten, gestikulierten und brachten sich und den Konsul damit in Gefahr. Die Polizei war schon aufmerksam geworden. (Später wurde der Konsul verhaftet, lebt aber jetzt wieder in Rang und Ehren.) Trotz Angst und Sorgen sahen wir noch eine Menge Menschen, die ebenso zersorgt waren wie wir, die uns aber doch vom eigenen Elend ablenkten. Der Name Werfel durfte nicht genannt werden, die bittstellenden Emigranten aber riefen laut ins Telefon: »Guten Tag, Herr Werfel - ich darf meinen Namen nicht nennen l« Das Telefon stand in der Halle unseres Hotels und konnte von jedermann abgehört werden. Neben uns wohnte die Gestapo. Wenn sie kamen, wurden wir vom Direktor des Hotels gewarnt. Er weigerte sich, J ' ie Besucherliste des Hotels auszuliefern... Wenn wir nicht auf einem der Konsulate herumstehen mußten, fuhren wir ans Meer hinaus, an den Strand. Die Möwen kreischten, der Dunst über den Wassern roch weit, gute Ideen kamen... es waren gesegnete Stunden... als wenn nichts Böses und Unheimliches auf der Welt wäre und auf uns lauerte. Nach unserem Besuch bei Mr. Fry stürzten wir also nach Hause es war keine Zeit zu verlieren. Unterdessen war sogar unser großes Gepäck angekommen. Schnell wurde wieder einmal gepackt... und das einzige, was Mr. Fry wirklich geleistet hat, war, daß er das ganze Gepäck von uns fünfen über die Grenze brachte. Meine Freundin Busch Meier-Graefe blieb mit mir die ganze Nacht wach, bis wir an die Bahn mußten. Es war der 12. September. Um fünf Uhr in der, Früh fuhren wir mit Heinrich, Nelly und Golo Mann von Marseille ab. Franz Werfel hatte am Tage vorher alle seine Schriften und Skizzen in einer Aschenschale verbrannt. In Perpignan verweilten wir ein paar Stunden, bis uns der Zug nach Cerbére bringen sollte. Dort wurden wir in einem völlig leerstehenden Hotel einquartiert und erwarteten unsere Ordres. Die beiden Amerikaner, Mr. Fry und ein junger, uns unbekannter Mann, hatten gehofft, daß man uns mit unseren amerikanischen Papieren durchlassen werde, was aber leider nicht gelang. So war also der erste Schachzug misslungen! Ich stand früh auf und ging zum Bahnhof, wo eine Zusammenkunft stattfinden sollte. Oben in dem leeren unheimlichen Hotel hatte es mich nicht lange gelitten. Frühstück war keines zu bekommen. Ein Tee war alles. Nun wurde Kriegsrat gehalten. Man beschloß, es aufs Geratewohl und ohne Papiere zu versuchen. Man wollte sehr früh aufbrechen; die spanische Sonne brannte schon um sechs Uhr früh höllisch auf uns nieder. Golo Mann, sonst ein äußerst verläßlicher Mensch, war unauffindbar. Er kam nach zwei Stunden sehr erfrischt von einem Meerbad, und nun endlich konnten wir an die Besteigung der Pyrenäen denken. Im Dorf fiel es Nelly Mann plötzlich ein, daß es Freitag der dreizehnte sei, und sie wollte durchaus umkehren. Franz Werfel und ich gingen voraus, um der Diskussion und ihrem wahnwitzigen Geschrei ein Ende zu machen. Wir sollten ja als harmlose Spaziergänger gelten und nicht als Schmuggler. Gleich nach dem Ortsende bog der junge Amerikaner von der Straße ab und ging auf steinigem Pfade steil aufwärts. Bald kletterten wir weglos. Die Ziegen vor uns stolperten, die Schiefersteine flimmerten, sie waren spiegelglatt, und wir mußten hart an Abgründen vorbei. Zum Festhalten, wenn man ausglitt, gab es nur Disteln. So ging es zwei Stunden steilsten Klimmens. Dann empfahl sich der Jüngling und eilte zurück, um Heinrich Mann noch die Richtung zu zeigen. Wir aber standen am Bergesgipfel ganz allein. Von weitem sahen wir das Hüttchen des spanischen Grenzpostens, es leuchtete weiß auf den weißen Steinen. Dort hatten wir hinzugehen. Mühsam krochen wir den Berg hinab und klopften angstvoll an die Tür, die sich bald öffnete und einen sturblickenden katalanischen Soldaten zeige, der nur Spanisch verstand. Das einzige, was, ihm einging, waren die Zigarettenschachteln, die wir in seine Taschen gleiten ließen. Er wurde freundlicher und machte uns Zeichen, ihm zu folgen. Endlich durften wir auf einer gangbaren Straße geben - aber wohin führte uns dieser Trottel? Zum französischen Grenzposten zurück! Wir hätten also ruhig mit einem Auto hinfahren können. Wir wurden vor den Chef geführt... Ich hatte alte Sandalen an, schleppte eine Tasche mit dem restlichen Geld und Schmuck und mit der Partitur der 3. Symphonie von Bruckner. Die Flucht durch Frankreich hatte fast unser ganzes Geld aufgezehrt, hunderttausend Francs, die ich Gott sei Dank unter Protest Werfels bei der Bank abgehoben hatte. Er hatte Angst, jemand könne es gesehen haben und mich deshalb umbringen. Wir müssen äußerst heruntergekommen gewirkt haben, und die Opern-Schmuggler in >Carmen( machten es bestimmt besser. Es war uns ganz elend von dem Marsch in der glühenden Sonne, und der Chef wurde plötzlich sehr lieb und winkte mit der Hand, man solle uns durchlassen. Stempel hatte er uns zwar keinen gegeben - so gut war er wieder nicht. Aber unser Weg hinab schien nun ohne Hindernisse. Schweißtriefend und todmüde wankten wir nun zurück, stiegen über theatralische Eisenketten, die Frankreich von Spanien trennen, und begaben uns, nachdem der Soldat hinunter ins Zollhaus telefoniert hatte, auf den weiteren Abstieg. Am Weg nach Port Bou fand ich ein halbes Hufeisen, ich steckte es ein, wir nahmen es als Glückszeichen und schritten froher aus. Unterdessen war es spät geworden. Die Hitze war unvorstellbar, aber kein Beamter war zu sehen. Sie hielten augenscheinlich Siesta, Die Angestellten, denen wir uns zuerst mit Devotion genähert hatten - weil wir sie für Staatsfunktionäre hielten -behandelten uns mit unheimlicher Liebenswürdigkeit. Sie versprachen uns gutes Gelingen, brachten Wein, schimpften auf Mussolini, der ihnen das Getreide und Fett wegnähme, und auf Franco, ohne Grundangabe. Katalanien war ja stets links, und wir faßten Mut, trotz größter Erschöpfung. - Endlich kamen die andern, Weggefährten an. Wir taten, als kennten wir uns nur flüchtig, und Golo Mann flüsterte ich rasch zu, soviel Geld als möglich an die Kerle (es waren gewöhnliche Träger) zu verschenken. Diese hatten sich schon laut darüber unterhalten, daß ein Sohn von Thomas Mann von der Partie sei. Die Leute sprangen wie die Wilden um uns herum, nachdem wir ihnen so ziemlich alles gegeben hatten, was an Francs in unseren Börsen war. Sie telefonierten um die besten Zimmer im Ort und rissen sich um unser aller Gepäck, als wir nach, vielstündigem Warten endlich zur Paßkontrolle an die Station beordert wurden. Man führte uns wieder über eine üble Abkürzung, bei der man durch anstrengendes Kraxeln nur Zeit verlor. jetzt erst aber kam der gefürchtete Moment: die Ankunft in Port Bou. Und es zeigte sich wie immer, die gefährlichen Situationen erlebt der Mensch mutterseelenallein. Nirgends ein Amerikaner oder Helfer. Wir saßen wie arme Sünder auf einer schmalen Wandbank nebeneinander, und unsere Paß-Scheine wurden an Hand von Kartotheken Überprüft. Heinrich Mann fuhr unter falschem Namen, als Heinrich Ludwig. Franz Werfel, mit eigenem Namen' war gefährdet, und Golo Mann als Sohn seines Vaters auch. Golo aber saß seelenruhig und las in einem Buch, als ob ihn der ganze Krempel nichts anginge. Nelly Mann hatte ihr ' en alten Mann mehr getragen als geführt, ihre Strümpfe hingen wegen der Disteln am Wege in Fetzen von ihren blutenden Waden. Nach qualvollem Warten endlich bekam jeder sein Papier mit Stempel zurück. - Wenn ich bedenke, wieviele Männer sich oben am Berg umgebracht haben oder ins spanische Gefängnis kamen, so muß ich von großem Glück sagen, daß die Behörde hier unsere amerikanischen Papiere anerkannte. Wir suchten und fanden nun Mr. Fry, der unser Gepäck hatte. Und so gingen wir im verdämmernden Abend irgendwohin, wo für uns ein Zimmer bestellt war. Das Hotel war im Bürgerkrieg fast ganz zerschossen worden. Es standen nur noch ein primitives Speisezimmer und drei bis vier schäbige Schlafzimmer. Das ganze Haus sah aus wie ganz Spanien... es war eine blutende Wunde. Am Abend ist im Gastzimmer ein junges Paar vom Maire getraut worden. Das Rathaus war auch zerstört. So schliefen wir bis vier Uhr morgens - einen wahren Todesschlaf. Erwachten schreckhaft, denn um sechs Uhr früh ging natürlich wieder der Zug. Auf der ganzen Flucht gingen alle Züge immer zwischen drei und sechs Uhr in der Früh. So ratterten wir nach Barcelona. Die Stadt ist vom Bürgerkrieg stark verwüstet, ausgehungert, verarmt... muß aber einmal sehr schön gewesen sein. Franz Werfel und ich saßen am Nachmittag vor einem Kaffeehaus - die armen Kinder leckten uns das Eis vom Teller. Man zahlt mit zerfetzten alten Marken... alles ist brüchig und trostlos. Wir verbrachten zwei Tage des Aufatmens in Barcelona und fuhren dann per Bahn nach Madrid, fünfzehn Stunden. Die Träger dort rieten zum Bahnhofshotel, und wir konnten ja nicht wissen, daß wir uns in eine Nazihölle führen ließen. Die Behandlung war entsprechend. Der Portier sagte zu Golo Mann: »Jetzt kommt ihr Juden daher, weil ihr überall hinausgeschmissen wurdet l« Man hatte uns gewarnt, nicht mit der Eisenbahn nach Portugal zu fahren, da an der portugiesischen Grenze alle Emigranten glatt eingesperrt wurden - darum mußten wir fliegen. Um drei Uhr nachmittags flogen wir von Madrid nach Lissabon. < zurück |